Wie Stimmen sinnvoll kategorisiert werden können…
Im Erfinden von Stimmfächern sind die Deutschen wohl die Kreativsten gewesen Der Opernbetrieb kennt nirgends so viele Stimmfächer wie in Deutschland. Die feine Abstufung etwa des Kloiber (1) gibt hiervon beredt Zeugnis und könnte mühelos noch erweitert werden. Doch keine noch so ausdifferenzierte Systematik würde die Vielfalt von Stimmen abbilden.
Gleichwohl scheint es sinnvoll, eine Einteilung vorzunehmen, damit der künftige Sänger – wir schließen hierin immer auch die Sängerin ein – weiß, welches Repertoire seiner individuellen Stimme am besten liegt, was er seiner Stimme zumuten soll und was auf keinen Fall, und nicht zuletzt, damit auch ein Komponist weiß, welche Eigenschaften er mit einer Stimme verbinden und so entscheiden kann, für welche Stimme er komponiert und wie er sie einsetzen will. Es ist also sinnvoll, Stimmgattungen und -Fächer zu kategorisieren. Die Kategorien müssen differenziert genug sein, um möglichst viele Schattierungen und Spielarten einzufangen, gleichzeitig aber auch simpel genug, um ihren eigenen Zweck nicht dadurch zu konterkarieren, dass sie möglichst jeder individuellen Ausprägung gerecht werden wollen und Unterteilungen erschaffen, deren Sinn niemand mehr versteht.
Stimmen werden grob in die Gattungen Sopran, Alt, Tenor, Bariton und Bass eingeteilt, wobei der traditionelle Chorsatz den Bariton i. d. R. nicht einbezieht. Die Oper kennt außerdem die Einteilung in lyrische und dramatische Fächer. Dabei gelten leichte bewegliche Stimmen mit heller Klangfarbe und nicht allzu ausladendem Volumen als lyrisch, lautere, durchschlagende und meist dunklere Stimmen hingegen als dramatisch. Dazu kommen noch weitere nicht-stimmliche Rollenmerkmale, die wir an dieser Stelle für unsere Zwecke nicht weiter ausführen müssen.
(1) Rudolf Kloiber, Handbuch der Oper, München 2007
Die Frauenstimmen
Unter der Stimmgattung des Soprans werden alle Frauenstimmen zusammengefasst, die über eine sehr helle Stimmfarbe verfügen und höher singen als alle anderen Stimmen. Der Stimmumfang erstreckt sich etwa von a bis f“‘. Der Name der Stimmgattung entstand über mehrere Zwischenstufen aus dem Wort „Superius“, was soviel wie die höchste Stimme bedeutet. Im Chor singt der Sopran meist die Melodiestimme. Nicht alle Soprane singen höher als c“‘. Die darüber liegenden Töne erreicht die weibliche Stimme mithilfe des sogenannten Pfeifregisters. Dabei erzeugen die Stimmlippen im Pharynx Luftwirbel, die als hohe Töne in der dritten Oktave hörbar werden, jedoch keine Vokaldifferenzierung mehr erlauben.
Eine Mezzosopranistin besitzt ein dunkleres Timbre. Sie kann durchaus die gleiche Höhe wie eine „Königin der Nacht“ erreichen; Zeugnis für den mitunter sehr weiten Stimmumfang von Sängerinnen dieser Stimmgattung gibt heute vor allem Cecilia Bartoli, die in hohen Lagen ebenso mitreißende Koloraturen singen kann wie in Erda-verdächtigen Tiefen des Alts. Jedoch stellte es für eine Sängerin dieses Fachs auf Dauer eine Belastung dar, wenn sie regelmäßig so hoch singen müsste wie ein Sopran.
Eine Altistin verfügt über eine dunkle und geerdete Stimme, deren untere Extreme bis in baritonale Tiefen hineinreichen kann. Diese unterscheidet sich deutlich von der einer Mezzosporanistin. Das bedeutet nicht, dass eine Altistin nicht auch das hohe C und also vom Stimmumfang her Sopranpartien singen könnte. Aber die Höhe klänge erkämpft und nicht wirklich frei. Das Timbre passte nicht zum intendierten Sinn der Arien, und die Stimme würde auf die Dauer zu sehr beansprucht.
Die Männerstimmen
Ähnlich verhält es sich auch bei den Männern. Die Sänger des tiefsten Stimmfachs, des Basses, haben die größte Stimmmasse und das weiteste Ansatzrohr, was sich oft auch in einem großen Körperwuchs zeigt. Durch ihre tiefe Obertonstruktur geben sie dem mehrstimmigen Gesang ein schönes Fundament. Zur Höhe hin sehen sie sich vor die Aufgabe gestellt, diese Masse graduell zurückzunehmen und die ihre Stimme auszeichnende Fülle noch auf einem hohen e zur Gel -tung zu bringen, ohne den Ton zu quetschen. Baritone und Tenöre tun sich hier leichter, weil ihr ganzer Stimmapparat insgesamt schlanker ist, weshalb ihnen Koloraturen i. d. R. – jedoch nicht zwingend – leichter fallen. Tenöre verfügen zudem über einen besonderen Stimmmechanismus, der ihnen oberhalb von fis’/g‘ einen weichen und gesunden Stimmbandschluss ermöglicht und somit befähigt, ihre Stimme in höchste Lagen, teilweise sogar bis über das c“ zu führen, ohne ins Falsett zu kippen. Der Bariton liegt – entgegen landläufiger Meinungen – viel näher am Tenor als am Bass (2), als eine hell timbrierte Stimme, deren Stimmumfang und damit auch ihre Übergänge etwa eine Terz tiefer liegen und die nicht oder nur eingeschränkt über jenen Mechanismus verfügt, mit dessen Hilfe eine Balance in der Spannung zwischen Cricothyreoid- und Arytaenoidmuskulatur auch noch oberhalb von g‘ hergestellt wird. Graduelle Abstufungen zwischen Bariton und Tenor sind zwischen der eher baritonalen Veranlagung eines Heldentenors und dem leichten und warmen Klang eines Tenore di grazia wahrzunehmen. Tenöre, deren Stimmumfang bis d“ reichen kann, haben i. d. R. einen kleineren Kehlkopf und von daher schon eine höhere Stimme. Jedoch bedeutet das nicht zwangsläufig im Umkehrschluss, dass sie nicht in der Lage wären, auch sehr tiefe Töne zu singen.
(2) Vgl. dazu die Ausführungen Miklós Klajns über den Tenor bis zum 19. Jahrh. in seinem Artikel „Die deutsche Stimmfachverteilung“: >hier klicken<
Viele Schattierungen im Baritonfach
Christoph Prégardien etwa intoniert bei seiner Interpretation von „Der Tod und das Mädchen“ ein großes d und gibt damit ein Beispiel für die breite Mannigfaltigkeit von Männerstimmen, die sich u. a. darin wiederspiegelt, dass der Bariton die am weitesten verbreitete Stimmlage zu sein scheint (für einen empirischen Beleg wäre eine entsprechende Erhebung zu machen). Eine Stimmgattung, die vom großen d bis b‘ immerhin mehr als zweieinhalb Oktaven umfasst, bietet Raum für die meisten individuellen Ausprägungen der Männerstimme, selbst wenn man die verhinderten Tenöre herausrechnet, deren Höhe niemals richtig trainiert worden ist. Ein Bassbariton kann tiefe Obertonanteile haben und deshalb schöne, klangvolle Töne in der großen Oktave hervorbringen. Umgekehrt gibt es Baritone mit schlanker Höhe und einem beinahe schon tenoralen Klang in der eingestrichenen Oktave, so etwa Dietrich Fischer-Dieskau oder Christian Gerhaher. Die Bezeichnung „Tenorbariton“ jedoch ist außer Gebrauch gekommen, obgleich sie diesen Stimmtyp m. E. besser beschreibt als die Intitulation „lyrischer Bariton“.
Lyrisch und dramatisch
Die Bezeichnungen „lyrisch“ und „dramatisch“ werden, wie bereits erwähnt, zur Klassifizierung von Opernsängern verwendet und haben, wenn überhaupt, nur dort ihre Berechtigung.
Doch diese Unterscheidungen sind höchst problematisch, nicht nur, weil man diese Kategorien kaum in Reinform findet oder gar ihre Bezeichnungen irrtümliche Assoziationen hervorriefen – das wären in der Tat noch die geringsten Probleme – sondern weil die physiologische Grundlage für diese Unterscheidungen an sich schon sehr dünn ist, die Fehleranfälligkeit entsprechender Zuordnungen umso größer. Ein Bass oder Bassbariton, der sogar oberhalb seines zweiten Passagios überwiegend mit der Bruststimme singt, hat höchstwahrscheinlich nicht gelernt, seine Kopfstimme richtig beizumischen und auf diese Weise mit Leichtigkeit über das Passagio zu gelangen. Das Resultat ist dann ein (scheinbar) lauter, eher dröhnender Klang mit wenig Vibrato. Die Tragfähigkeit des Tons hängt nämlich nicht davon ab, mit wieviel Stimmasse man singt, sondern ob der Ton resonanzreich genug ist, um tragfähig zu sein. Eine sog. lyrische Stimme hingegen, die den Registerübergang beherrscht, kann somit letztlich mehr Volumen entfalten als eine dramatische, auch wenn sie heller und kopfiger klingt. Erfahrene Stimmbildner hören sofort heraus, ob eine Stimme tatsächlich aufgrund ihrer Veranlagung brustiger und lauter klingt oder nur aufgrund technischer Fehler den Anschein erweckt.
Aber selbst wenn man von der Gefahr absieht, sich durch diese Einteilung zu Fehlern verleiten zu lassen und eine Stimme früh in eine Schublade zu schieben, so sind auch andere Unterscheidungsmerkmale höchst fraglich. Wo steht geschrieben, dass ein schwerer Bass keine Koloraturen singen kann? Warum soll nicht ein Koloratursopran eine sonore, wohlklingende Mittellage haben? Und gerade die Stimmen der mittleren Lagen weisen eine so große Bandbreite in Farbe und Ausdruck auf, dass man jede Typisierung mit Vorsicht genießen sollte. Warum sollte nicht ein leidenschaftlicher Opernsänger feine, „lyrische“ Töne in einer entsprechenden Rolle finden, warum nicht ein Freund eben solcher Töne umgekehrt auch einfach mal eine Arie „schmettern“? Typisierungen wie „lyrisch“ und „dramatisch“ sollten daher immer mit kritischer Distanz vorgenommen werden. Virtuose Stimmen sind immer auch mehrdimensionale Stimmen und niemals nur auf einen einzigen Ausdruck festgelegt. Sinn macht gerade diese Einteilung nur, wenn man damit nicht absolute Kategorien festzusetzen, sondern damit Tendenzen in einer Stimme auszumachen versucht, die zu einem bestimmten Repertoire prädestinieren. Doch auch hier muss man differenzieren zwischen Repertoire und Vortragsweise.
Objektive Kriterien für die Stimmfächer
So wird immer wieder in Feuilletons und in der Gesangsliteratur von sog. „Wagner“-Stimmen gesprochen, die sich für Bayreuth besonders eignen. Sie zeichnen sich durch großes Volumen und dramatische Qualitäten aus. Stimmen, die mehr zum Lyrischen hin tendieren, können beschädigt werden, wenn sie mit aller Gewalt auf dieses Repertoire getrimmt werden sollen (3). Jedoch liegt das nicht zwingend an den Werken selbst, sondern an der Art, wie sie bis heute vorgetragen werden. Vielleicht wird sich irgendwann eine andere Vortragsweise durchsetzen, die lyrische Stimmen begünstigt. Die Qualität der Stimme allein anhand des Repertoires zu beurteilen, genügt also nicht.
Bei der Festlegung der Stimmgattung und des Stimmfachs sollte man sich daher auf möglichst objektive Kriterien verlassen. Allein der Ambitus genügt hierzu nicht, denn er kann, wie wir gesehen haben, sehr individuell ins eine wie ins andere Extrem ausgebildet sein. Mindestens so aufschlussreich sind die Registerübergänge Auch diese können individuell verschieden liegen, jedoch in der Gesamtschau mit Ambitus und Stimmklang sehr aufschlussreich sein. Wenn ein hoher Bariton ein großes g mit einem eher knarrenden Strohbass singt, so kann das entweder einem üblen Knödel oder doch schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass er am unteren Rand seines Ambitus singt. Im Laufe der Zeit wird er sich darüber Klarheit verschaffen können, sofern er sorgfältig und mit Geduld angeleitet wird und das Ziel der Ausbildung nicht schon am Anfang feststeht.
Dies soll kein Plädoyer gegen die Einteilung von Stimmen sein, ganz im Gegenteil: Erst sie schafft ein Bewusstsein dafür, dass jede Stimme nach sehr allgemeinen Kriterien zu beurteilen und anhand des richtigen Repertoires auszubilden ist, dabei jedoch immer einer individuellen Behandlung bedarf. Anders formuliert: Solange man die Stimmgattungen und -Fächer nicht als Zweck, sondern als Instrument ansieht, können sie sehr gewinnenbringend für die Ausbildung genutzt werden. Sie können und müssen auch die Stimme vor Über- bzw. Unterbeanspruchung schützen. Sie vereinfachen die Besetzung von Rollen in Oper und Oratorium und verdienen daher ihre Existenz – solange sie nicht Zweck, sondern Mittel sind.
(3) Vgl. den Artikel „The dangers of singing heavy repertoire with a lyric voice“ v. David Jones: >hier klicken<
Der Autor: Peter C. Wichert, M. A., hat Geschichte und Romanistik in Duisburg und Münster studiert. Er wirkte in verschiedenen Chören mit, bevor er eine Gesangsausbildung begann. Seitdem tritt er auch solistisch auf. Sein besonderes Interesse gilt dem Liedfach und dem Madrigal.