Sie haben sicher schon mal gehört, dass man mit dem ganzen Körper singen sollte. Aber was heisst das eigentlich genau? Rein anatomisch gesehen ist diese Aussage nicht richtig.
Es handelt sich bei dieser Aussage um ein Vorstellungsbild, dass es einem erleichtern soll, den ganzen Körper in den Singvorgang mit einzubeziehen und seine Funktionen für den Stimmklang zu nutzen.
Beim Singen und bei Gesangsübungen geht es darum optimale physische und psychische Vorraussetzungen zu schaffen, damit ein idealer Primärklang an den Stimmlippen entstehen kann.
Dieser Klang soll sich nun im Körper und natürlich auch ausserhalb des Körpers frei entfalten können. Um das erreichen zu können ist eine stabile und flexible Aufrichtung des Körpers, sowie eine gute Atemfunktion unerlässlich. Durch eine Intensivierung des Bodenkontaktes kann man genau das erreichen.
Im Folgenden möchte ich nun den, aus der Terminologie des Konzeptes Schlaffhorst- Andersen bekannten Begriff des Bodenkontaktes näher erläutern.
In der Haut, in den Knochen, in den Muskeln, Sehnen und Gelenken befinden sich Rezeptoren, die ununterbrochen Sinnesreize wie Druck, Berührung, Temperatur, Dehnung, Vibration und Spannung erfassen und uns Auskunft über den Zustand unseres Körpers und unserer Umgebung, also auch des Bodens geben.
Bodenkontakt bedeutet, dass man sich bewusst zum tragenden Boden hin orientiert.
Bodenkontakt kann man mit den Füssen haben, aber auch im Sitzen oder im Liegen erfahren. Durch die Erdanziehungskraft haben wir ja fast immer einen gewissen Kontakt zum Boden, ausser wir bewegen uns, springen, hüpfen oder schwimmen gerade.Es gibt jedoch Unterschiede in der Qualität des Bodenkontaktes.
Es geht darum wie bewusst wir uns die Kontaktfläche zum Boden machen.
Wenn wir stehen, bieten die Füsse den einzigen Berührungspunkt zum Boden. Da meistens im Stehen gesungen wird, ist für das Singen der Kontakt der Füsse zum Boden entscheidend. Doch den Füssen wird in unserer Gesellschaft häufig wenig Beachtung geschenkt. Vielleicht liegt es daran, dass sie am weitesten vom Kopf, dem Denkapparat, entfernt sind. Dennoch tragen sie uns den ganzen Tag und haben eigentlich ein wenig Beachtung verdient, oder?
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten den Bodenkontakt zu intensivieren und ihn damit für uns erfahrbarer zu machen. An den Füssen lässt sich der Bodenkontakt zum Beispiel durch sensorische Reizsetzungen an den Fussflächen verbessern, indem man die Fusssohlen mit verschiedenen Materialien aktiviert, wie zum Beispiel mit Bällen, Stäben oder indem man bewusst über ein Seil geht, aber auch wenn man barfuss geht, die Füsse massiert, oder aktive Bewegungen mit den Füssen macht. Auch mit verschiedenen Vorstellungsbildern und mit innerer bewusster Hinwendung zur Kontaktfläche lässt sich der Bodenkontakt verbessern.
Wenn wir beginnen die alltägliche Berührung der Füsse mit dem Boden gezielter und bewusster wahrzunehmen, stehen wir sicherer und können flexibler aus unserer Mitte aus agieren. Die Qualität unserer Aufrichtung verbessert sich. Und das nicht nur äußerlich. Da physische und psychische Vorgänge sich wechselseitig beeinflussen, können wir durch einen verbesserten Kontakt zum Boden auch innere Erlebniswelten beeinflussen.
Mit einem guten Bodenkontakt kann einen nichts so schnell umhauen, da man sozusagen „geerdet“ oder auch „verwurzelt“ ist. Man kann innere Sicherheit erleben und auch Ängste, innere Anspannungen und Nervosität können abgebaut werden. Mit zunehmender Sensibilität für den Kontakt mit dem tragenden Boden verbessert sich auch die Eigenwahrnehmung. Wer den Körper gut spürt, der kann auch besser Spannungen in der Muskulatur wahrnehmen und ist bewusster in der Lage diese zu lösen.
Durch einen guten Bodenkontakt können sich also Fehlspannungen in der Muskulatur, also zum Beispiel in der Schulter- und Halsmuskulatur abbauen. Spannungen im Körper werden ausgeglichen und es kann eine Eutonisierung der Muskulatur erreicht werden. Je mehr Kontakt man beispielsweise mit den Fussflächen zum Boden hat, desto besser kann man sich mit dem restlichen Körper bewegen und flexibler auf innere und äussere Impulse reagieren. Und auf verschiedene Impulse eingehen zu können ist beim Singen und überhaupt beim Musizieren einfach enorm wichtig.
Alles was mit dem Körper und im Körper geschieht hat spezifische Auswirkungen, denn der Körper bildet eine Einheit und kein Prozess kann losgelöst davon betrachtet werden.
Durch einen bewusst erfahrenen Bodenkontakt verlagert sich die Atembewegung nach unten in den Bauchbereich. Das Zwerchfell kann sich wesentlich besser bewegen und somit besser funktionieren. Das ist für das Singen von entscheidender Wichtigkeit, denn gute Atemfunktionen bilden die Grundvoraussetzung für gute Stimmfunktionen.
Ein chinesisches Sprichwort besagt: „ Der Weise atmet mit den Fersen, der Unwissende mit dem Hals.“ Natürlich kann man rein anatomisch nicht durch die Fersen atmen, als Vorstellungsbild jedoch eignet sich das „durch die Fersen atmen“ wunderbar für die Verbesserung des Bodenkontaktes. Vor allem bei Auftritten, in Stresssituationen oder auch in Alltagssituationen kann das bewusste hinwenden zum Boden also helfen, „gut bei Atem zu bleiben“, die gestellten Anforderungen sicher und souverän zu meistern und bei sich zu bleiben, um so gestärkt in den Kontakt mit der Umwelt zu treten und flexibel auf sie reagieren zu können.
Ich wünsche Ihnen guten Bodenkontakt.
Mit lieben Grüssen,
Dorothea Schmidt